Träumen im Kammermusiksaal – (k)ein Artikel

18.10.2023 CJD Rostock « zur Übersicht

Am vierzehnten Oktober im Kammermusiksaal der Berliner Philharmonie führte das CJD-Orchester unter der Dirigentschaft von Christof Harr sein Publikum in eine musikalische Traumwelt rund um Mendelssohn, Schumann und Rimsky-Korsakow. Dieses Jahr kollaborierte das CJD-Orchester mit Künstler/innen aus Dortmund und unserem Rostocker Theaterkurs. Die Kunstwerke der Dortmunder wurden während der Vorstellung auf einer Leinwand präsentiert und konnten auch während der Pause im Foyer betrachtet werden. Wir als Theaterkurs traten zwischen den einzelnen musikalischen Abschnitten auf und rezitierten selbstverfasste und neuinterpretierte Texte, die auf Shakespeares „Ein Sommernachtstraum“, Novalis „Heinrich von Ofterdingen“ und „Märchen aus 1001 Nacht“ basierten.

Für eine unserer Proben hatten wir keinen Raum gefunden. Im Hotel-Foyer war es zu voll, deshalb gingen wir nach draußen in den Innenhof. Es war noch nass draußen, auf den Tischen hatten sich vereinzelt Pfützen gesammelt. Kalt auch, ich hatte meine Jacke vergessen, vielleicht auch bewusst nicht mitgenommen. Wir hatten den Vibe. Wir hatten überhaupt viel den Vibe. Am Abend davor waren wir nochmal unsere Texte durchgegangen. Jetzt war der Moment intense. Am Ende die letzten zwei Sätze, die Fensterfront hinaufgebrüllt, um später auch sicher das Orchester zu übertönen: „Langsam erblüht die Blaue Blume“ und „Ich bin Frucht“, aber beides mit Ausrufezeichen und die Feststelltaste aktiviert. 

In Wetzlar hatten wir uns alle zum ersten Mal gesehen. Christofs verpixeltes Zoom-Gesicht erhielt einen Körper. Das ganze Projekt, davor noch ein abstraktes, strukturloses Gebilde, wurde inkarniert. In den Pausen spielten wir Uno, jumpten auf einem Trampolin und lernten die Orchestermenschen kennen. Ich habe mit jedem Orchestermenschen mindestens einmal geredet - wir sind durch die Reihen geflogen, sie mussten sagen, was ihnen zu Mandarinenschalen - orange - Farbe - Herbst - Pfütze einfällt. Bei Alex sind die Leute abgedanced, bei Willi gerannt, bei Klara geswisch-boing-powed.

Am letzten Abend in Wetzlar schlangen einige von ihnen die Arme umeinander und tanzten, Alex mit dabei. Die anderen spielten eine abgefahrene Variante von „Wer bin ich“. Um Punkt Null Uhr sangen wir für Lukas, Bratsche, Happy Birthday – Patrick meinte einmal, dass es schlimmer ist, das Instrument einer Person zu verwechseln als ihren Namen. Unser peinlichster Moment war wahrscheinlich, als wir den Unterschied zwischen Oboen und Klarinetten nicht kannten.

Die Berliner Philharmonie ist so gebaut, dass man sich auf der Bühne vor dem eigenen Atem erschreckt, weil jedes Geräusch zurückgeworfen wird. Das hat Christof uns erzählt; ein paar Minuten später stand Dietrich mit genau demselben Gedanken vor uns. Als wäre der sehr wichtig, so ein besonderer Moment, an den erinnert man sich später noch. Dabei standen wir während des Auftritts überhaupt nicht auf der Bühne.

Wir saßen dicht am Gang, damit wir während des Auftritts genug Zeit hatten, um das Mikrofon rechtzeitig zu erreichen. Mein Gesicht war noch ganz heiß vom Adrenalin; insgeheim hatte sich mein Selbst von seinem Körper gelöst und schwebte nun lazy im Raum herum. Es war seltsam, im Publikum zu sitzen, während die Zuschauer/innen an uns vorbei die Treppe hinunterstiegen – als ob sie uns nun alle kannten. Und ich erwartete etwas und beobachtete sie aus dem Augenwinkel, dann aber doch überrascht, als das Etwas wirklich kam: „Ihr solltet alle Schauspieler werden.“ Oder die Leute bedankten sich einfach nur. Oder verabschiedeten sich – als ob sie uns besuchen gekommen wären, dabei waren wir selbst nur zu Besuch in der Philharmonie.

Wir hatten einen eigenen Raum, ein Solistenzimmer, das mit einem kleinen Bad (Toilette, Dusche) verbunden war. Ein Teil der linken Wandseite wurde von einem Spiegel vereinnahmt – kurz vor dem Konzert verewigten wir den Moment in einem Spiegelselfie. Neben dem Spiegel stand ein Klavier, an dem die krassen Pianisten normalerweise sitzen, kurz bevor sie vor tausenden von Menschen auftreten. Auf der Couch gleich gegenüber hat Willi gelegen und genapped.

Ich erinnere mich kaum an den Auftritt – nur an die Aufregung davor und die Erleichterung danach. Während das Orchester spielte, bin ich gedanklich die einzelnen Etappen durchgegangen und habe das abgehakt, was wir schon hinter uns hatten. Was genau ich gesagt habe und wie ich es gesagt habe und mit welchem Gesichtsausdruck, weiß ich nicht mehr, aber das Feedback war großartig – vielleicht ist man ja doch nicht nur zu Besuch, vielleicht ist das mein Room und das mein Sandwich, ich muss nicht mal meine Eintrittskarte beim Türsteher vorzeigen, der Dude kennt mich ja schon, und ich bin ganz sicher nicht zehnmal an ihm vorbeigelaufen, weil ich mich verlaufen habe.